PG Kirchzell
"Frühstück und Politik" mit Landrat Scherf in Kirchzell – Der Kreisverband Miltenberg der KAB hatte am 8. November ins Pfarrheim von Kirchzell eingeladen zu „Frühstück & Politik“ mit Landrat Jens Marco Scherf. KAB-Bildungsreferent Joachim Schmitt moderierte. Bei der Begrüßung durch die aktuelle Sprecherin des Kreisverbands Miltenberg, Elisabeth Seuffert, wurde mit einem Zitat von Papst Franziskus gleich die Erwartungshaltung deutlich: „Wir müssen Menschen ermöglichen, würdig zu leben“. Dazu passend erinnerte Joachim Schmitt Landrat Scherf an sein Wahlkampfmotto „Gerecht muss es sein!“, und dann ging´s auch schon gleich in konkrete Themen.
Gestartet wurde mit dem Thema „ländliche Infrastruktur“. Der Landkreis Miltenberg sei geprägt von krassen Gegensätzen. Während es entlang des Mains an nichts fehle und so manche Gemeinde schuldenfrei sei, sähe das im bayerischen Odenwald und im Südspessart ganz anders aus. Es gäbe kaum noch Einkaufsläden, kaum Ärzte, es fehle an Sozialstationen. Gerade für Senioren seien die weiten Wege eine Herausforderung. Schon Kindergartenkinder und Grundschüler müssten oft weite Wege zu Kindergarten oder Schule bewältigen. Ganz aktuell: muss es wirklich sein, dass das Miltenberger Krankenhaus zum Jahresende geschlossen wird?
Scherf bestätigte die Problematik, machte jedoch deutlich, dass der Landkreis nicht für alles zuständig sei. Aber: „der Landkreis kann sich Aufgaben stellen, die er eigentlich nicht hat“, so Scherf. Das Krankenhaus sei nun mal vor Jahren privatisiert worden – in einer Zeit, als Privatisierung als zeitgemäße Lösung vieler Probleme galt. Heute sähe man durchaus manches wieder anders. Dennoch, die Schließung wird kommen. Wichtiger sei es nun zu prüfen, ob z.B. der Rettungsdienst dann noch ausreichend aufgestellt ist. „Bisher gingen jährlich ca. 1000 Fahrten nach Miltenberg, nach Erlenbach ist es weiter, eventuell müssten jetzt mehr Rettungskapazitäten aufgebaut werden“, so der Landrat.
Zur Frage der dünnen Versorgung mit Ärzten und Sozialstationen mahnte Scherf an, dass „die Kommunen mehr zusammenarbeiten müssen“. Es gäbe inzwischen im Landkreis schon entsprechende Initiativen, z.B. ILEK Südspessart (Initiative für ländliche Entwicklungskonzepte). „Es muss nicht alles über den Landrat laufen“. Auch jede Form der Bürgerbeteiligung und Bürgerinitiative sei gut, Nachbarschaftshilfe, oder ganz neue Ideen, wie neue Formen der Bügermobilität mit Elektromobilen im Dorf.
Ein weiteres Schwerpunktthema war die Situation der Flüchtlinge im Landkreis. Eines machte Scherf dazu gleich klar: Solange die Lage in den Herkunftsländer so ist, wie sie ist, wird sich am Zustrom nichts ändern. Es sei, zynisch aber wahr, aus Sicht der Flüchtlinge wie im Märchen von den Bremer Stadtmusikanten: „Etwas besseres als den Tod findest du überall!“ Wer das Risiko unberechenbarer Schleuserbanden und einer lebensgefährlichen Überfahrt übers Mittelmeer auf sich nimmt, hat nur noch die Hoffnung auf ein besseres Leben vor Augen. Und noch eins sprach Scherf klar aus: „Diese Leute werden bleiben!“
Zur Zeit wären es jede Woche ca. 20 Flüchtlinge, die dem Landkreis neu zugewiesen würden. Ungefähr 400 Flüchtlinge würden aktuell verteilt auf 20 Gemeinden des Landkreises leben. Noch gibt es also Gemeinden, wo noch keine Flüchtlinge untergekommen sind. Dabei, so Scherf, „lebe der Landkreis von der Hand in den Mund“. Nach wie vor gelte sein dringender Appell, geeigneten Wohnraum bereitzustellen und dem Landkreis anzubieten.
Wichtig sei es, dass von vornherein möglichst viele Institutionen vor Ort kooperieren. „Manche Bürgermeister kommen zu mir gleich mit Pfarrer und Schulleiter“, so Scherf. Auch die Vereine vor Ort seien sehr wichtig, und überhaupt, ohne die Arbeit der ehrenamtlichen Helferkreise sei die Versorgung, Betreuung und Integration niemals zu bewältigen. Auch Deutschkurse seien wichtig. Bis vor wenigen Jahren sei das seitens der Regierung noch gar nicht gewünscht gewesen. Aber, so Scherf, „die Zeit der Abschreckung ist vorbei“. Deutschkurse, vielfach erst durch ehrenamtliches Engagement ermöglicht, sind ein Schlüssel zur Integration.
Ganz besonders gelte das für junge Flüchtlinge. Immer mehr Flüchtlinge seien sogenannte „unbegleitete Minderjährige“, also Jugendliche ohne Eltern oder Angehörige. „Kinder lernen schnell“, so Scherf, aber „wir müssen es ihnen auch ermöglichen“. Deshalb habe er demnächst alle Schulleiter der weiterführenden Schulen zu einem Gespräch eingeladen, um die Beschulung der minderjährigen Flüchtlinge besser zu regeln. „In den USA werden Einwandererkinder ohne Sprachkenntnisse sofort in den Schulen mitgeführt, mit paralleler Intensivförderung“, so Scherf. So weit sei man hierzulande leider noch nicht. Dabei sei Deutschland schon längst „Einwanderungsland Nr. 2 hinter den USA“.
Womit die Diskussion bei den Schulen im Landkreis angelangt war.  Es wurde angemerkt, dass ja nicht nur Flüchtlinge und Einwanderer eine Herausforderung für die Schulen sind. Auch für die Inklusion von jungen Menschen mit Handicaps würden deutlich mehr Mitarbeiter an den Schulen gebraucht. Scherfs Statement dazu war eindeutig:„Wir müssen aufhören zu trennen zwischen behindert und nichtbehindert“. Und: „Wir müssen in unserem Kopf einen anderen Leistungsbegriff entwickeln“, so Scherf. Jeder würde gebraucht, gerade in einer Zeit des demografischen Wandels. „Der Run aufs Abitur ist Quatsch“, so der Landrat, gerade im Handwerk fehle es mehr und mehr an Nachwuchs. Nicht zuletzt deshalb will der landkreis sich als „Bildungsregion“ zertifizieren lassen. Klares Ziel sei es, für die regionale Wirtschaft ausreichend qualifizierten Nachwuchs heranzubilden.
Kurz vor Ende kam noch eine Frage von überregionaler Dimension, aber durchaus regionaler Bedeutung: wie der Landrat denn zum Thema TTIP – dem geplanten Freihandelsabkommen der EU mit den USA – stehe. Scherf meinte, selbst der Generalkonsul der USA habe schon versucht, ihn als Grünen-Politiker zur Unterstützung von TTIP zu bewegen. Er stehe jedoch hinter der ablehnenden Haltung seiner Partei. Allerdings, so Scherf, die Bundesregierung habe im Verlauf der letzten Jahre schon 153 Abkommen dieser Art mit anderen Staaten geschlossen, daran komme man auch nicht vorbei. Scherfs Statement zum Abschluss: „Ich kümmere mich lieber um Landkreisthemen!“
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